Kapitel 16
Sie sind herzlichst eingeladen
in den Salon des Westcott Cottage
zu Essen und Unterhaltung
zur Feier der erfolgreichen Schafschur.
Die Festlichkeiten beginnen am Freitag, den 15. Juni 1883,
um achtzehn Uhr.
Gideon betrachtete die Karte, die am Spiegel seine Kommode lehnte, während er seine Krawatte band. Die stockbeinigen Wesen auf dem Bild grinsten ihn freundlich an. Seit er England verlassen hatte, hatte er keinen Gesellschaftsanzug mehr getragen, doch als Bella ihm die Einladung überreicht hatte, hatte er sofort gewusst, dass er sich festlich herausputzen würde.
Meine Mädchen haben schwere Zeiten hinter sich.
Meine Mädchen.
Der Gedanke brachte ihn derart aus der Fassung, dass er aus Versehen das eine Ende der Krawatte losließ. Wann hatte er angefangen, so über Adelaide zu denken?
Das erste Mal, als sie Bella zum Lachen gebracht hatte? Während ihrer Begegnung am Fluss, als sie ihm ihre Meinung gesagt hatte? Oder letzte Woche im Pferdestall, als er sie in seinen Armen gehalten hatte? Wann war es passiert?
Er starrte sein Spiegelbild finster an und fing noch einmal von vorne an, die Krawatte zu binden.
Wann es angefangen hatte, war nicht so wichtig. Viel wichtiger war die Frage, was er mit dieser ungewohnten Situation machen sollte. Und die Antwort darauf war eindeutig:
Nichts. Er würde einfach überhaupt nichts tun.
Adelaide Proctor war eine wunderbare, kluge Frau mit einem Herzen voller Liebe für Kinder. Aber das war alles, was sie war – was sie sein durfte.
Seine Eltern hatten ihre Söhne immer dazu angehalten, aus Liebe zu heiraten, aber das hieß nicht, dass sie nicht bestimmte unausgesprochene Ansprüche hatten. Eine Frau aus gutem Hause. Kultiviert. Elegant. Mit aufrechtem Charakter.
Adelaide erfüllte den letzten Anspruch natürlich. Aber sie war zu überschwänglich, um als elegant bezeichnet zu werden, und zu aufbrausend, um kultiviert zu sein. Und obwohl sie in Boston ihre Ausbildung genossen hatte, hatte ihre Familie keine Beziehungen zur gehobenen Gesellschaft, keinen Hintergrund, den die Adelsfamilien seiner Gesellschaftsschicht anerkennen würden.
Nein. Sie war die Lehrerin seiner Tochter. Vielleicht sogar eine Freundin. Sie als mehr zu betrachten, würde sein Leben nur kompliziert machen. Und das konnte er momentan nicht brauchen.
Als er mit seiner Krawatte fertig war, zog er seine schwarze Weste an, strich sie glatt und richtete seine goldenen Manschettenknöpfe. Heute war Bellas Abend. Er hatte seine kleine Tochter in den letzten Tagen viel zu selten gesehen. Das Scheren und Baden der Tiere hatte seine Tage ausgefüllt, während die finanziellen Belange seiner Farm die Abende bestimmt hatten. Und da er sich zu allem Überfluss auch noch Gedanken darüber gemacht hatte, wie Adelaide den Angriff in der Scheune verkraftete, war er nicht einmal nachts zur Ruhe gekommen.
Seit dem Vorfall mit José hatte Adelaide sich nicht mehr draußen bei den Arbeitern blicken lassen. Natürlich machte er ihr deshalb keinen Vorwurf. Nachdem Ramirez und seine Männer abgereist waren, hätte er allerdings gehofft, dass sie wieder hinauskam – wenigstens, um mit Saba auszureiten. Aber sie hatte sich im Haus versteckt.
Zumindest wusste er jetzt, dass sie mit Bella an der Planung des Empfangs gearbeitet hatte, anstatt mit trüben Gedanken in der Ecke zu sitzen. Doch wenn sie wieder ausritt, würde er sich noch besser fühlen. Vielleicht würde er sie nach der Feier heute Abend einladen, am Morgen mit ihm zum Fluss zu reiten. Er könnte sie auch zu einem Rennen herausfordern. Sie würde niemals ablehnen, wenn sie Sabas Können unter Beweis stellen konnte. Ein Lächeln schlich sich auf sein Gesicht. Adelaide war wie eine stolze Mutter, wenn es um ihr Pferd ging. Mit Bella war es genauso. Unwillkürlich fragte er sich, ob sie ihm gegenüber die gleiche Loyalität empfand.
Gideon nahm seinen schwarzen Frack vom Bett und zog ihn an. Als alle Knöpfe geschlossen waren, richtete er noch einmal seine Frisur und machte sich dann auf den Weg nach unten.
Miguel saß auf einer Bank in der Empfangshalle und strich sich nervös über die Hosenbeine. Er wirkte wie ein scheues Pferd, das ausbrechen würde, sobald man die Zügel losließ.
„Ruhig, Miguel“, sagte Gideon mit leiser Stimme. „So schlimm ist es hier auch wieder nicht.“
Der Vorarbeiter sprang auf die Füße. „Señor Westcott, ich sollte nicht hier sein.“
Gideon klopfte ihm auf den Rücken. „Warum nicht? Du bist ein geladener Gast.“
„Aber ein Empfang im großen Haus? Das ist etwas für feine Gentlemen und schicke Ladys. Nicht für Angestellte, die nach Schafen stinken.“
Gideon beugte sich nah an Miguel heran und schnupperte hörbar. „Ich rieche nichts. Außerdem bin ich unter all diesem erlesenen Stoff nichts anderes als ein Schafzüchter. Da meine Tochter uns beide eingeladen hat, scheint es ihr egal zu sein, dass sie es mit zwei Hirten zu tun hat. Und jetzt halte dich gerade.“ Gideon zupfte wie ein Butler an Miguels Kleidung herum. Der schwarze Gehrock, den er seinem Vorarbeiter geliehen hatte, hing ein wenig an ihm, doch er sah durchaus vorzeigbar aus. Er richtete seine Krawatte und wischte dann ein wenig Staub von seiner Schulter. „So. Heute Abend bist du auch äußerlich, was du sowieso schon immer warst – ein Gentleman-Schafhirte.“
„Gracias, patrón.“
Hinter Miguel trat die Köchin aus der Küche in den Salon. „Mrs Garrett! Wie wunderbar Sie aussehen.“
Mrs Garrett betrat den Raum in einem grünen Kleid, das vor ein paar Jahren sicher modern gewesen war, aber sie errötete bei Gideons Schmeichelei wie ein Schulmädchen.
„Das ist das Verrückteste, was ich je gehört habe“, grummelte sie vor sich hin und nahm ihren Hut ab. „Dass man die Angestellten zu einem Essen einlädt und ihnen nicht einmal gestattet, das Essen zu servieren. Ihre Tochter nimmt seltsame Ansichten an.“
Gideon nahm ihr den Hut ab und hängte ihn an einen Kleiderständer, ließ sich aber von ihren knurrigen Worten nicht täuschen. „Mir gefällt der Gedanke. Vielleicht wird das eine neue Tradition in Westcott Cottage. Einmal im Jahr werden die Menschen, die hier Tag für Tag so hart arbeiten, belohnt, indem sie die Rollen mit den Arbeitgebern tauschen. Nächstes Mal werde ich an der Seite meiner Tochter sein.“
Eine Vision von Adelaide, die neben ihm stand und ihn unterstützte, schoss durch seine Gedanken. Schnell verdrängte er sie.
„Ich sage Ihnen, diese Miss Proctor ist schon ein Wunder“, fuhr Mrs Garrett fort. „Sie hat mich heute Morgen allerlei Dinge vorbereiten lassen, die man kalt servieren kann, sodass ich in den letzten Stunden nichts mehr zu tun hatte. Es gibt Roastbeef-Sandwiches, Kartoffelsalat, Krautsalat, gekochte Eier, zwei verschiedene Pasteten und einen Schokoladenkuchen.“
Gideon lächelte. „Das hört sich nach einem wahren Festmahl an.“
„Als ich alles fertig hatte, hat sie mich einfach weggeschickt. Ich solle mich auf das Fest vorbereiten und mich ausruhen. Sie würde den Rest machen. Hat man so etwas schon einmal gehört?“ Mrs Garrett stemmte die Hände in die Hüften. „Als könnte ich mich ausruhen, wenn mir jemand meine Arbeit wegnimmt. Und wann will sie sich überhaupt vorbereiten, wenn sie meine Aufgaben zusätzlich zu ihren übernimmt, frage ich mich.“
Gideon runzelte die Stirn. Es hörte sich so an, als hätte sich Adelaide zu viel vorgenommen. Er sollte ihr helfen, anstatt hier herumzustehen und zu warten.
Hinter ihm räusperte sich jemand. „Ich glaube, unsere Gastgeberin ist soeben erschienen“, verkündete sein Butler.
Chalmers stand am Fuß der Treppe, wie immer vorbildlich gekleidet. Seine Frau hatte sich bei ihm untergehakt, doch ihr Blick war nach oben gerichtet, wo Isabella stand.
„Ein wunderschöner Engel“, rief die Haushälterin aus. Gideon konnte ihr nur zustimmen.
Seine Tochter schritt langsam wie eine Königin die Treppe hinunter. Ihr rosafarbenes Seidenkleid kam ihm bekannt vor, doch er konnte sich nicht daran erinnern, dass es einen perlenbesetzten Kragen und einen Saum aus edler Spitze gehabt hatte. Bellas Locken, die sonst wild um ihren Kopf tanzten, waren ordentlich frisiert und mit einem zum Kleid passenden Band geschmückt worden.
Gideon streckte die Arme aus und ging seiner Tochter lächelnd entgegen. Als sie zurücklächelte, fühlte er sich plötzlich ein bisschen größer und stärker. Was mit Sicherheit gut war, denn in ein paar Jahren würden unzählige Bewerber um ihre Hand anhalten.
Als sie die unterste Stufe erreicht hatte, beugte sich Gideon über ihre Hand und deutete einen Handkuss an. Sie kicherte und wurde rot, nickte aber hoheitsvoll lächelnd mit dem Kopf. Dann verließ sie seine Seite, wie es jede gute Gastgeberin getan hätte, und begrüßte die übrigen Gäste. Nachdem sie die Runde gemacht hatte, bedeutete sie allen, ihr in den Salon zu folgen. Gideon blieb zurück, um seine Tochter zu beobachten. Von der Tür aus warf er einen Blick in den Salon und sah, dass die Möbel an die Seite gerückt worden waren. Auf dem Boden befanden sich Quilts und Kissen in freundlichen Farben. Ein Picknick im Haus.
Ein Tisch an der Wand war beladen mit dem Essen, das Mrs Garrett vorbereitet hatte. Die Köstlichkeiten waren geschmackvoll auf Silbertabletts und in Kristallschalen angerichtet worden. Teller und Becher standen bereit, um gefüllt zu werden. Adelaide hatte alles wunderbar hergerichtet. Doch wo war sie? Sie sollte hier sein, um die bewundernden Reaktionen ihrer Gäste zu genießen.
Ein Knarzen der Treppe erregte seine Aufmerksamkeit. Er ging zurück in die Empfangshalle und wandte sich um, da er Miss Proctor in ihrem besten Sonntagskleid erwartete – das Kleid, das ihm immer ein fröhliches Lächeln aufs Gesicht zauberte, wenn sie gemeinsam nach Menardville in die Kirche fuhren. Doch als sein Blick sie traf, verschwand das Lächeln von seinem Gesicht. Als sie auf ihn zukam, konnte er weder atmen noch sprechen.
Adelaide in einem ihrer üblichen Kleider war ein wunderbarer Anblick, doch Adelaide in einem Traum aus Seide und Perlen raubte ihm schier den Verstand. Keine Lady in London hätte mit ihr konkurrieren können.
Ihr dunkelbraunes Haar war in Wellen nach hinten gesteckt. Ein Reif aus Perlen, der perfekt zu ihrer Kette und dem perlenbesetzten Korsett des Kleides passte, zierte ihre Frisur. Bei jedem Schritt, den sie auf ihn zukam, wurde ihm schwindeliger. Als sie am Fuß der Treppe angekommen war, konnte er sich nicht zurückhalten und ließ seinen Blick über ihren Körper schweifen. Das Kleid betonte ihre schmale Taille und ihre weiblichen Kurven auf eine Weise, die ihn sofort an eine Hochzeit denken ließen. Endlich konnte er seine Augen von ihr losreißen und sich wieder auf ihr Gesicht konzentrieren, als ihm klar wurde, dass er sich wie ein Gentleman zu benehmen hatte.
Sie blieb eine Armlänge entfernt vor ihm stehen und senkte schüchtern ihre haselnussbraunen Augen. Am liebsten hätte Gideon die Distanz zwischen ihnen überbrückt, doch er blieb wie angewurzelt stehen. Als er es endlich geschafft hatte, seinen Puls unter Kontrolle zu bringen, hob sie ihre Augen und ihre Blicke verschmolzen.
„Guten Abend, Gideon.“
Gut? Er bezweifelte, dass es jemals einen besseren Abend gegeben hatte.